Diese Seite ist noch nicht in Leichte Sprache übersetzt. Sie wird jetzt in Alltagssprache angezeigt.

MK:

Interview mit Stas Zhyrkov

Stas Zhyrkov war der jüngste Theaterleiter der Ukraine, sein künstlerischer Werdegang ab 2013 fand parallel zu stürmischen politischen Entwicklungen in der Ukraine statt, seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges inszeniert Zhyrkov im Exil. Lesen Sie hier ein Gespräch.

Viola: Kannst Du unseren Zuschauer*innen etwas über Deinen künstlerischen Hintergrund erzählen? Du arbeitest nicht das erste Mal an den Kammerspielen, aber das erste Mal im Schauspielhaus. Deine Karriere als Regisseur hat in der Ukraine begonnen, jetzt arbeitest Du im Exil.

Stas: Ich muss vielleicht zunächst sagen, dass ich als Schauspieler angefangen habe, meine beiden wichtigsten Lehrer waren aus der 2. Generation der Studenten von Kurbas, sie ließen uns wirklich große Freiheit,-

Viola: Wer war Kurbas?

Stas: Kurbas ist einer der wichtigsten Theatermacher in der Ukraine im 20. Jahrhundert, er wurde von den Russen 1937 ermordet. Für uns ist Kurbas vielleicht ähnlich bedeutsam wie Brecht in Deutschland. Ein großartiger Autor und Regisseur, der wirklich eine Vision von europäischem Theater hatte, er kam ja auch in meinem letzten Stück an den Kammerspielen „News from the past“ vor. Ich war also einige Jahre Schauspieler und spielte an diversen Theatern in Kiew, doch dann gab es einen Umschwung in mir und ich wußte, dass ich Regie führen wollte, hatte meine eigene freie Gruppe. Ich bin tatsächlich nie wieder als Schauspieler auf die Bühne gegangen, obwohl mir das anfangs schwergefallen ist.

Für meine erste Regiearbeit bekam ich direkt einen Preis in der Ukraine. Es ging alles ein bisschen schnell, die erste Regiearbeit war 2011, und 2014 wurde ich schon Theaterleiter am „Golden Gate Theater“ in Kiew, einem kleinen Haus. Wir haben ein sehr internationales, erfolgreiches Programm gemacht. Danach wurde ich 2019 Intendant des „Left Bank Theatre“, einem großen traditionsreichen Haus. Beide Theater befanden sich in Umbruchprozessen, die auch schmerzhaft waren, wir wollten wirklich etwas Neues für Kiew machen, neue Themen, neue Texte, etwas, das an den sozialen Problemen der Gesellschaft dicht dran ist.

Meine erste Regiearbeit in Deutschland war schon 2016, in Magdeburg, ich wollte mich unbedingt sehr schnell europäisch vernetzen. Ich lernte viel über das deutsche Theatersystem und auch über den Teamspirit, der in der Ukraine nicht unbedingt gleich verbreitet ist.

Viola: Wie hast Du nach der russischen Invasion entschieden, dass Du ins Exil gehen würdest?

Stas: Ich habe eine Weile gebraucht, aber verstand dann doch, dass die Themen, die ich im Theater erzählen will, unter russischer Okkupation dazu führen würden, dass ich ein toter Mann wäre. Ich hatte große Angst. Ein halbes Jahr war ich Theaterleiter im Exil, realisierte eine Reihe von Gastspielen mit unserem Theater in Deutschland, es gab eine Koproduktion in Riga, wir spielten auch wieder in Kiew, aber dann schlug eine Rakete in meine Wohnung ein in Kiew, und es gab keinen Ort mehr, an den ich so einfach zurückkehren konnte. Ich wollte im Ausland von der Geschichte der Ukraine erzählen. So es kam zur ersten Zusammenarbeit mit den Kammerspielen, einer Arbeit an der Schaubühne.

Viola: Wie funktioniert für Dich die Arbeit in einer fremden Sprache mit fremden Schauspieler*innen?

Stas: Es besteht schon ein riesiger Unterschied in der Arbeit mit ukrainischen, mit deutschen oder mit litauischen Spieler*innen. Ich habe inzwischen ein System mit einer zweisprachigen Synopsis des Textes entwickelt, mit einer Probenübersetzung, und meistens verstehe ich den Text der Spieler*innen irgendwann quasi blind. Ich habe aber auch die Rolle der Dramaturgie sehr zu schätzen gelernt. Das ist ein wichtiges Korrektiv. Ich nehme Theater sehr ernst, mein Lehrer sagte immer: „Theater ist Theater, aber die Erde dreht sich auch ohne Theater weiter“. Mit dieser Einstellung kann ich ganz gut arbeiten.

Viola: Viele Deiner Regiearbeiten waren verbunden mit der besonderen ukrainischen Geschichte und dem Krieg. Was ist Dir wichtig?

Stas: Mein ganzer künstlerischer Weg war eigentlich immer parallel mit dramatischen politischen Ereignissen verbunden, Maidan 2013, 2014 die Besetzung des Donbass und der Krim. Das war ja kein Bürgerkrieg, sondern die Besetzung durch russische Truppen. Ich habe keine andere Wahl. Der Krieg verletzt jeden von uns zutiefst, meine Familie, meine Freunde sind noch dort, ich habe 35 Jahre dort gelebt. Ich liebe dieses Land und möchte etwas beitragen. Ein Weg ist, eine Waffe in die Hand zu nehmen, an der Front zu kämpfen. Mein Weg ist ein anderer: die Weltöffentlichkeit weiß nichts über uns, unsere Arbeit an unserer Identität, an unseren Fehlern. Wieso sollte diese Weltöffentlichkeit sich für uns einsetzen und emphatisch sein? Das war 2014 der Grund dafür, dass sich Deutschland nicht für die Entwicklungen im Donbass und die Besetzung der Krim interessiert hat. Der Wunsch darüber in meiner künstlerischen Arbeit zu erzählen, beginnt, bevor ich ins Exil gehen musste.

Viola: Der Vorschlag, „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin zu adaptieren, kam sowohl von Seiten des Theaters als auch von Dir, das war wirklich ein ideales Zusammentreffen. Unter welchen Umständen und wann ist Dir dieser Roman begegnet?

Stas: Das war in der Corona-Zeit. Es hat mich sehr betroffen gemacht, ich habe viele Anknüpfungspunkte bei dieser Geschichte, ich wollte das Buch sogar zuerst in der Ukraine adaptieren. Aber dann verstand ich, dass es eigentlich viel mehr um Deutschland geht und wollte es hier realisieren. Es ist zudem ein Bestseller, ein wichtiges Buch, das viel über die Verbindungen von Deutschland und der Ukraine erzählen kann.

Wir brauchen diese Verbindungen. Hier geht es nicht um den aktuellen Krieg, sondern die historischen Verbindungen zwischen der Ukraine und Deutschland, über die kaum jemand spricht.

Viola: Du hast berichtet, dass Du eine ähnliche Erfahrung gemacht hast wie Natascha Wodin, nämlich die Entdeckung einer Dir selbst unbekannten Familiengeschichte.

Stas: Es geht um meine Urgroßeltern mütterlicherseits, und ich bin immer noch auf der Suche, weil es gar nicht einfach ist. Ich habe jüdische Wurzeln. Aus diesen Gründen wurde auch unser Familienname geändert, ich weiß immer noch nicht den ursprünglichen Namen. Meine Urgroßeltern gingen von Rumänien aus nach Moldawien. Ich versuche immer noch herauszufinden, unter welchen Umständen das geschah. Diese „weißen Flecken“ in der Familiengeschichte sind eine kollektive Erfahrung vieler Osteuropäer*innen. Wenn man sich zum Beispiel Litauen ansieht: 70 Prozent der Bevölkerung wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Sibirien deportiert, und dann kamen die Nachfahren dieser Menschen in den späten 80ziger und 90ziger Jahren zurück nach Litauen. Es geht darum, die eigene Herkunft zu begreifen. Natascha Wodins Geschichte hat etwas Universelles. Wenn man sich die ukrainische Geschichte des 20. Jahrhunderts ansieht, mit all den Revolutionen, der sowjetischen Besatzung und der späten Unabhängigkeit in de 90zigern, findet man unzählige heiße Spuren allein in den Dokumenten aus dieser Zeit.

Viola: Ein wesentlicher Teil von Wodins Geschichte ist die Zwangsarbeit der sogenannten „Ostarbeiter“. Ich habe zugegebenermaßen erst durch diese Inszenierung gelernt, wie flächendeckend die Lager der Ostarbeiter in Nazideutschland organisiert waren, dass es sich um ein Massenphänomen handelt. Wie wird über die Zwangsarbeit in der Ukraine gesprochen? Hier in Deutschland würde ich das Thema als einen „blinden Fleck“ in der Geschichtserzählung bezeichnen.

Stas: Im Gegensatz zur Beschäftigung Deutschlands mit seiner Nazivergangenheit gibt es keine vergleichbare Auseinandersetzung in der Ukraine mit den Jahrzehnten unter der russischen Besatzung. Ich glaube tatsächlich, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema den Schlüssel dazu enthielte, den Weg aus dem aktuellen Krieg zu finden. Seine eigene Vergangenheit als „Ostarbeiter“ zu thematisieren war jahrelang in der Ukraine sehr gefährlich, denn man konnte in einem sowjetischen Lager landen, quasi von einem Lager ins nächste deportiert werden. Ich verstehe also die Entscheidung von Natascha Wodins Familie sehr gut, nicht zurückzugehen. Die Informationen über die Ostarbeiterschicksale halten sich also in der Ukraine selbst in Grenzen – bis heute.

Trauen wir uns wirklich, über die sowjetische Periode der Ukraine zu sprechen und den 2. Weltkrieg? Es gibt immer noch keinen offenen gesellschaftlichen Dialog über Kollaboration, über Zwangsarbeit, über das jüdische Trauma, das die Ukraine erlebt hat, z.B. in Babyn Jar, leider ist das so.

Viola: Mir fällt auf, dass nach der schrecklichen russischen Besatzung und dem Fall von Mariupol die Nachrichten aus dieser Stadt völlig versiegt sind. Es scheint nicht mehr zu existieren. Ist das in der Ukraine auch so?

Stas: Das ist eigentlich dasselbe. Es ist typisch für die Methode der russischen Besatzung. Die Stadt wird zerstört, dann gibt es einen russischen Wiederaufbau, der nicht funktioniert, - das Problem dieses Krieges und vieler anderer russischer Invasionen ist, dass sie diese Territorien nicht brauchen. Wenn man sich das am Beispiel des Donbass ansieht: eine Kohleregion mit großer Tradition, der letzte Kohleschacht aber wurde dieses Jahr unter russischer Besatzung geschlossen. Für Mariupol heißt das, die Russen brauchen nicht wirklich diese Stadt, aber sie brauchen diese Stadt ohne Ukrainer*innen, sie siedeln dort russische Menschen an.

Viola: Ein weiterer berührender Aspekt in Nataschas Geschichte ist der Abgrund, der Riss, der mitten durch ihre Familie geht. Auf der einen Seite die potentiellen Kollaborateure mit den Deutschen, auf der anderen Seite der Frontsänger der roten Armee und die Schwester, die in einem stalinistischen Arbeitslager landet. Die Erfahrung, der Spaltung, die Vorwürfe der Kollaboration ist im aktuellen Krieg wieder präsent in der ukrainischen Gesellschaft. Auch wenn unser Stück nichts über den aktuellen Krieg erzählt, gibt es doch eine Verbindung zu heute.

Stas: Kollaboration ist eine sehr belastende Erfahrung für die Ukraine im aktuellen Krieg. Der Fehler der ukrainischen Regierung ist, meines Erachtens, dass nicht differenziert genug über ganz unterschiedliche Formen und Situationen der Kollaboration geerdet wird. Jeder Fall ist anders. Wenn es sich zum Beispiel um eine Schuldirektorin handelt, und ihr Mann ist im Gefängnis: Ist das Kollaboration, wenn die Frau von den Russen unter Druck gesetzt wird, mit ihnen zusammenzuarbeiten, weil ihr Mann sonst ermordet wird? Ein anderer Fall wäre, wenn diese Schuldirektorin von sich aus der Ansicht wäre, dass sie für die Russen agitieren möchte. Es besteht eine allgegenwärtige Angst in der Gesellschaft, und letztlich muss man sich jeden einzelnen Fall genau ansehen. Es ist nicht immer alles schwarz oder weiß, das ist der entscheidende Punkt. Von daher ist „Sie kam aus Mariupol“ eine höchst gegenwärtige Geschichte. Wir sind sehr nah an Russland, wir haben gemeinsame Familien. Der Riss geht mitten hindurch. – In Mariupol war ich zuletzt 2021, und ich war fasziniert von dem südlichen Spirit dieser Stadt, für mich ist das ein großer Verlust.

Viola: „Sie kam aus Mariupol“ ist eine dunkle Geschichte, aber lass uns zum Ende dieses Gesprächs auch über Hoffnung sprechen.

Stas: Wir haben ein sehr tolles, sehr ernsthaft in diese Geschichte vertieftes künstlerisches Team, das gibt mir Hoffnung. Wenn ich von der Geschichte aus argumentiere, ist für mich ein Schlüsselsatz: „Mache ich genug, damit deine Geschichte, Mama, verstanden werden kann?“ Hier geht es für mich um nichts anderes als um Liebe. Die Erzählerin schenkt ihre ganze Aufmerksamkeit diesem Schicksal, sie sagt an keiner Stelle ein böses Wort über ihre Mutter. Was sehr leicht vorstellbar wäre. Sie vertieft sich in sie. Das ist die helle Seite dieser Geschichte.